Autorenportrait Ulrich Karger

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Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten | Textprobe


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Der Anfang des Märchens

VOM UHRSPRUNG


Es war einmal ein Land, das weder Jahre noch Sekunden kannte.
Dieses Land wurde von einem Königspaar regiert, aber das störte eigentlich niemanden, denn weder der König noch die Königin machten sich Gedanken darüber, wann sie ihren Amtsgeschäften nachgehen oder wann sie Urlaub machen sollten. Wie ihr Volk lebten sie in den Tag hinein, und wenn sie um einen Rat gefragt wurden, antworteten sie nur "Komm nach dem Essen wieder" oder "Komm, nachdem wir geschlafen haben".
Allerdings wussten weder das Königspaar noch die Ratsuchenden, wann das nun sein würde.
Die Leute fanden dann meistens ihre eigene Lösung, nachdem sie selbst in Ruhe gegessen oder ihre Frage überschlafen hatten.
Und solange niemand klagte, waren alle zufrieden.

Einmal aber - keiner weiß mehr, wann das war - kam irgendjemand auf die Idee, das, was es nicht gab, zu erfinden. Weil es ihn zuerst auch nicht gab, erfand er sich kurzerhand selbst und nannte sich: WISSENSCHAFTLER.
Der Titel gefiel ihm. Stolz stellte er sich vor den Spiegel, und es kam ihm vor, als wäre er ein Stück gewachsen. Zog er nun noch sein Bäuchlein ein, und tat er dasselbe mit den Wangen, schien ihm seine ganze Erscheinung zudem kühn und bewundernswert nachdenklich. Dieser Mann würde endlich Ordnung schaffen!
Und er begann sein großes Werk in den eigenen vier Wänden. Irgendwie musste es doch zu überprüfen sein, wie groß das Zimmer war. Einer ersten Eingebung folgend, zog er den Schnürsenkel aus seinem linken Schuh und rutschte auf den Knien immer an der Wand lang. Neunmal passte der Schnürsenkel an die längere Zimmerwand. Bei der kürzeren blieb ein Rest übrig, nachdem er den Senkel siebenmal angelegt hatte. Sein Blick fiel auf den Schuh, den er bei der wissenschaftlichen Rutscherei verloren hatte, und einer zweiten Eingebung gehorchend, versuchte er nun, das fehlende Stück in der Ecke mit dem Schuh auszufüllen.
Passt!
Dies alles galt es festzuhalten. In fein säuberlicher Schrift übertrug er die Ergebnisse seiner ersten wissenschaftlichen Untersuchung auf ein Blatt Papier.
Aber was war die beste Wissenschaft ohne die gebührende Anerkennung durch die Repräsentanten der Macht?
Den linken Schuh in der rechten Hand, Schnürsenkel, Stift und Papier in der linken, hüpfte er die Treppen zum Schlosstor hinauf. Den obersten Treppenabsatz zierte ein in großen Lettern eingemeißelter Sinnspruch:

ZUM FREUEN BRAUCHT EIN JEDER RUH.

"Darauf ließe sich wohl manches entgegnen", dachte der frischgebackene Wissenschaftler, "aber eins nach dem andern". Hätte er erst einmal die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Königspaares, würde er auch hierzu einige Neuerungen vorschlagen. Nur - soweit kam es nicht.
"Komm nachher wieder, jetzt wollen wir beim Spiel nicht gestört werden", hieß es.
"Wann ist denn nachher?", wollte der neugierige Wissenschaftler wissen.
"Was soll diese Frage?", knurrte der König. "Natürlich dann, wenn es uns keinen Spaß mehr macht zu spielen!"
Und damit war die Audienz beendet, und er wurde wie alle anderen zuvor wieder hinauskomplimentiert.






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