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Textenetz | Reportage: Eine Geschichte des Kabaretts - interessiert doch keinen mehr ...


Eine Geschichte des Kabaretts - interessiert doch keinen mehr ...
Eine Impression von Ulrich Karger

Erstveröffentlichung: Textenetz 21.01.2010

Homepage-Archiv von Volker Kühn:
  • www.vauka-berlin.de

  • Artikel zu Volker Kühn im Textenetz:
  • E-Mail-Interview mit Volker Kühn (2002/03)
  • Eine Geschichte des Kabaretts (2010)
  • Nachruf auf Volker Kühn (2015)

  • In der Büchernachlese besprochene Titel von Volker Kühn:
  • Deutschlands Erwachen - Kabarett unterm Hakenkreuz
  • Hierzulande: Kabarett in dieser Zeit ab 1970
  • Wir sind so frei - Kabarett in Restdeutschland 1945-1970
  • Fisch sucht Angel (Buch und Regie zu einem Stück mit Tucholsky-Texten)


  • Um 15 Uhr mit Volker Kühn in seinem Karree am Savignyplatz verabredet. Ich sollte bei ihm klingeln, aber nachdem ich meinen Wagen in dem überteuerten Parkhaus abgestellt hatte und über die Straße ging, saß er bereits vor dem Terzo Mondo auf einer kleinen Bank zusammen mit Freund Alfred Wagner. Vom vorbeischlendernden Nachbarn Klaus Wagenbach ließ er sich gerade wohl schon zum hundertsten Mal ein "Na, du alter Kommunist" gefallen. Als wir uns begrüßten, war der Alt-Verleger bereits weitergezogen, aber Volker Kühn wärmte mir zuliebe den offenbar nicht allzu ungelittenen Running Gag noch einmal auf.

    Alsbald gemeinsames Schlendern auf dem Weg zum Café Brel, um angesichts des erstaunlich milden Novembertags draußen zu sitzen und ungemaßregelt dem Rauchen frönen zu können. Das Rauchen sollte jedoch erst beim Abschied wieder Thema werden.

    Jeder eine andere Art Kaffee vor sich, wurde das Gespräch nach kurzem "Wie geht's Dir?" mit dem unter Kreativen unvermeidlichen Lamento über den fehlenden Absatz eröffnet. Dabei hatte ich Volker Kühn nur gefragt: "Wann machst Du Dich eigentlich an Deine Biographie?" "Das interessiert doch keinen!", die prompte Antwort. Und selbst Alfred Wagner, der als einstiger Jazzmusiker sein kleines Label duo-phon-records über Wasser zu halten versucht und Volker Kühn immer wieder zu neuen CD- und DVD-Veröffentlichungen für seine Edition Berliner Musenkinder angestiftet hat, meint, dass nicht mal er an solcherart Literatur interessiert sei. Da war der Fokus allerdings schon auf die 68er verengt, weil ich behauptet hatte, unter anderem auch Kühns Begegnungen und Arbeiten mit den Kabarett- und Politgrößen jener Generation wiederzugeben, wäre im selbstkritischen Rückblick bestimmt sehr spannend.

    "Was heißt hier Selbstkritik - damals gab es wenigstens ein Empörungspotential, das heute doch gar nicht mehr vorhanden ist!"

    Fluch der Bescheidenheit, die, wiewohl ohne Falsch, in diesem Fall nicht richtig bzw. nicht angebracht ist. Volker Kühn, der sich stets mehr als Mittler denn als vordergründiger Macher seines Metiers sah, scheint bestenfalls nur dann und wann zu ahnen bzw. es nicht abstreiten zu können, dass er mit seinen inzwischen 76 Jahren zweifellos selbst ein einzigartiger Zeitzeuge und damit zugleich Nachricht ist. Denn er kennt sie alle - alle Personen, die sich seit den frühen 60ern dem Kabarett verschworen haben, was für ihn selbstverständlich ausschließlich politisches Kabarett meint. Er hat mit ihnen entweder direkt als Regisseur gearbeitet oder ihnen als Rundfunkredakteur, Schallplattenproduzent, Herausgeber und Buchautor ein Forum gegeben. Sein und aller Kabarettliebhaber Kronjuwel war natürlich Wolfgang Neuss, dessen Nachlassverwalter er bis heute ist.
    Und was von den 60ern inzwischen gut 50 Jahre ins Hier und Heute weist, geht bei dem Historiker Volker Kühn auch noch mal genauso viele Jahre zurück bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, das zugleich den Anfang des Kabaretts an sich bezeichnet. Bis auf das von seiner "Liebsten" verteidigte Wohnzimmer dürften die anderen Gelasse seiner "Wohnhöhle" das umfangreichste, wenn auch nach eigenem Bekunden keineswegs bestsortierte Archiv an Kabarettdokumentationen auf unterschiedlichsten Medien beherbergen, wovon bislang nur ein Bruchteil der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte. Volker Kühn ist somit nicht nur Teil sondern Mitte eines Netzes, in dem alle bemerkenswerten Fäden dieser zehnten (oder elften?) Muse zusammentreffen.
    "Aber das alles interessiert doch keinen mehr …"
    Immerhin hat bereits die Berliner Akademie der Künste einen Teil seines Archivs in Vorlass genommen. Hierfür ist also Bestandssicherheit gewährt und irgendwann auch dessen wie immer geartete Ausbeute bzw. Be- oder Verarbeitung.

    Doch was ist z.B. mit den noch gut 40 Interviews, die er mit Kabarettisten aus den 20er und 30ern geführt hat? Deren bekannteste Vertreter waren zu 90 Prozent Juden und die Überlebenden waren in den 60ern auf der ganzen Welt verteilt - und sind inzwischen alle tot! Diese längst transkribierten Gespräche interessieren keinen? Es scheint so - weder hierzulande und selbst (oder gerade) in Israel nicht ...
    Wer also nicht nur Herz und Verstand fürs Kabarett hat, sondern auch ausreichend solvent ist, sei hiermit herzlich eingeladen, etwas Gutes und Wichtiges zu stiften.

    Wieder einmal hat es Volker Kühn geschafft, von sich als Person abzulenken und stattdessen für ein Projekt zu werben.
    Nein, nicht ganz.
    Denn daran, dass er, der von Kirche und Christentum längst abgewandte Pastorenenkel, auf Vorfahren einer Pastorendynastie bis ins 16. Jahrhundert verweisen kann, von denen er nun auch zwei in einem Kirchenlexikon entdeckt hat, die nicht immer mit der Obrigkeit (u.a. auch nicht mit Bismarck) eins waren, lässt er mich gern und grinsend teilhaben - gerade weil er von meinem Brotberuf als Religionslehrer weiß. Umso mehr bleibt seine resolute Abkehr von allem Religiösen und insbesondere Christlichen ein Rätsel, das ihn selbst allerdings überhaupt nicht interessiert. Muss also auch keinen anderen interessieren …

    Der Kellner stellte noch eine Kerze auf unseren Tisch, da war nicht nur Kühns Labelfreund Wagner schon gegangen, sondern hatten sich längst alle anderen Gäste des Cafés in seinem Inneren einen Platz gesucht. Denn auch wenn dieser Novembernachmittag einige wärmende Sonnenstrahlen aufgeboten hatte, war es zum Ende unserer Cafésitzung doch sehr kühl geworden. Beim Aufstehen kommentierte das Volker Kühn lapidar aber durchaus freundlich: "Hätte gar nicht gedacht, dass unser Gespräch so lange geht."

    Nach dem Zahlen noch die letzten gemeinsamen Schritte, kamen wir aufs geduldete Rauchen im Innern gastronomischer Betriebe zu sprechen. "Ach in der Kneipe dort und dem Lokal hier geht das noch."
    Und dann erzählte Volker Kühn von einer geplanten CD, die alte Schlager versammelt, welche das hohe Lied auf den Tabak und das Rauchen singen. Als Sponsor empfahl sich da natürlich die Zigarettenindustrie, die wäre erst auch alles Andere als abgeneigt gewesen, aber dann hat sich deren Rechtsabteilung eingeschaltet, wonach das Ganze nicht wie Tabakwerbung aussehen dürfte - denn das wäre aufs Höchste und vor allem aufs Teuerste strafbewehrt. Real-Kabarett der Gegenwart. Nichtraucherschutz und Satire oder gar Selbstironie gehen offenbar nicht zusammen. Schade eigentlich …
    Aber wenn sich nun kultivierte Nichtraucher z.B. für die Veröffentlichung besagter 40 Interviews einsetzten, würde das gewiss nicht nur Volker Kühn versöhnlich stimmen.

    Ulrich Karger




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