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Textenetz | Kommentar: Liest ER eigentlich?


Kommentar bzw. Vorwort einer von Ulrich Karger redaktionell mitverantworteten ÖLF-Nummer, für die u.a. auch Beiträge von Hanns-Dieter Hüsch und Wolfgang Neuss gewonnen werden konnten.

Erstveröffentlichung: Österreichisches Literaturforum 3 / 1989



Angesichts immer tiefer sinkender Verkaufszahlen literarischer Erzeugnisse könnte mensch genauso gut fragen: Wer liest überhaupt noch, und wenn es so wenige sind, warum sollte dann gerade Gott ...?
Die Frage nach Sinn und Zweck des Lebens wird aber von den Autoren und Autorinnen nach wie vor heftig gestellt und beantwortet - und ist es ein Wunder, das apokalyptische Weltuntergangsvisionen bei den eingereichten Arbeiten überwiegen? Sicherlich nicht!
Aber warum dann weiter in einer schwärenden Wunde bohren, wenn eh bald alles zum Teufel gehen wird?
Zum einen: Das ÖLF ist eine Literaturzeitschrift, und obige Fragestellung treibt auch ganz profan jede und jeden Schreibenden an.
Wenn Gott Leben ist, meint "Gott" den Prozeß einer allumfassenden Spannung (Leben und Sterben und Leben und ...). Der Mensch als spätgeborenes Zünglein am Magnetschalter kann und muß sich (schnell!!) entscheiden, ob er diese Spannung anerkennen oder sich als ein nicht weiter bemerkenswerter (Fehl-) Versuch der Natur ins endgültige Abseits stellen will. Die egozentrische Nabelschau des Menschen ist schlicht absurd, und Gott darf nicht länger als Ablenkungsmanöver mißbraucht werden: AUSCHWITZ wurde nicht von Gott, sondern von uns Menschen zugelassen!
Zum zweiten: Geschichten und Geschichte, die auch nach dem woher einer Entwicklung fragen, kommen früher oder später auch mit der Machtstellung religiös-geistlicher Würdenträger in Berührung. In Europa muß mensch dazu düstere Kapitel wie durch nichts zu rechtfertigende Kreuzzüge, Hexenverbrennungen bis hin zu den unterstützten oder zumindest nicht abgewehrten Verfolgungen von Juden, Sinti und Roma, Kommunisten und Homosexuellen, und, und, und nachlesen.
Auf der anderen kirchengeschichtlichen Seite steht aber auch die Förderung der Kultur, insbesondere des Schulwesens für Nichtprivilegierte - zugegebenermaßen vorerst nicht zu deren Emanzipation, sondern zur Verbreitung konfessionell gebundener Glaubensansichten, aber es lag an dem Volk, diese Chance zu nutzen, und die Aufklärung hätte ohne diese erste Alphabetisierungskampagne (Luthers "Kleiner Katechismus") nicht über so relativ breiten Boden gesät werden können.
Zum dritten: Das heutige "Volk" ist trotz überflutender Informationsquellen nur mühsam in der Lage sich der jüngsten Vergangenheit zu erinnern und sich der Gegenwart lebendig anzunehmen, weil, so behaupte ich, es auch keine lebendige Zukunftsperspektive hat, die über den neid-und anspruchsvollen Blick in Nachbars Garten hinausreicht. Es ist ein Vakuum entstanden, das sich z.T. mit fernöstlichen, mißverstandenen (um nicht zu sagen: für uns Europäer überhaupt nicht nachzuvollziehenden) Religionen füllen oder in dem Brei des NEW AGE picken oder mittels chauvinistischer, faschistoider Sekten, Gruppen und Parteien zuerst implodieren und danach alles "neu ordnen" will - Eine Rentnerin über den "Republikaner" Schönhuber: "Der is uns von Gott g'schickt wor'n!"

Eine noch junge Wissenschaft, die BIONIK, läßt sich nicht mehr von starren Gesetzmäßigkeiten leiten, sondern erzielt erstaunliche Ergebnisse mit der von der Natur geübten Vorgehensweise des try and error - auch das Alte Testament ist voll von beschriebenen Irrtümern, aber nicht, um sie als gottgegeben zu manifestieren, sondern um immer wieder einen neuen Anlauf zu unternehmen, in Gottes "Angesicht" zu schauen, ob es schreit oder weint oder hoffnungsvoll lächelt.
Den Arm eines Kindes zu verdrehen bis er bricht, dabei Augen und Ohren verschließen und dann sagen: "Das habe ich nicht gewußt.." ist ein langgeübtes Paradoxon, Macht zu stabilisieren und kann nicht Gott zugeschoben werden.
Zum vierten: - und damit schließt sich der Kreis - die vornehmste Aufgabe der Literatur konnte und könnte das Wegbereiten neuer Ideen sein, die lebendiges Leben in dieser Welt befördern - daß die eine oder andere Schrift dies vermochte, wurde oft genug erst sehr viel später und zumeist posthum zugestanden.
Ganz unabhängig davon, wie treffend oder geschmacklos die Arbeit von Rushdie derzeit angesehen sein mag, die laut verkündete Hetzjagd auf das Leben eines Schriftstellers kann niemals als legaler oder auch nur legitimer Rechtsgrundsatz anerkannt werden.
Liest ER eigentlich?

Unser Aufruf, sich an diesem Heft zu beteiligen, erreichte (mit Ausnahme von Aurel Schalev und Adayatullah Hübsch) in erster Linie Autoren und Autorinnen, die sich aus dem christlichen Umfeld heraus definieren: praktizierend, nominell, Steuern sparend oder atheistisch. SIE, die Institutionen der christlichen Glaubensgemeinschaften, werden den Beweis antreten müssen, ob sie - wie z.B. Jesus - wirklich mit allen an einem Tisch sitzen wollen und - wie z.B. der von den Nazis kurz vor Kriegsende hingerichtete Theologe Bonhoeffer - eine lebensmündige Gemeinschaft anstreben, weil das allumfassende göttliche Leben, der lebendige Gott wahrhaft alle liebt, die sich gegen das perverse (verdrehte), ängstliche Ausrichten nach lebensfeindlicher Macht mit Leib, Herz und Seele wehren.
Das Beispiel von dem Zöllner Zachäus meint nicht nur, daß Jesus keine oder keinen von seinem Tisch weist, sondern vielmehr daß Zachäus jederzeit für sich die Verantwortung übernehmen und statt (sich selbst) zu betrügen, lebenswertere Antriebe umsetzen kann.
Vor 100 Jahren und davor mag Arbeitslosigkeit, d.h. nicht mehr arbeiten zu müssen und die Annäherung mittels medizinischer Möglichkeiten an Unsterblichkeit ein verständliches Traumziel gewesen sein. Heute jedoch ist auf diesem Weg der Zenit des Sinnvollen längst überschritten, und es muß zur goldenen Mitte zurückgefunden werden, die selbstständiges und eigenverantwortliches Handlungsvermögen als Gut und nicht als abwählbare Last versteht sowie den Tod als sinngebenden Teil des Lebens akzeptiert.
"Wer Ohren hat, zu hören, der höre! (Markus 4,9) ... und die Frohe Botschaft der Christen und Christinnen will ja ein Miteinander und kein ÜBEReinander reden, oder?
Jemanden in den Kopf greifen kann und soll kein Mensch - kann es Gott?
Ich weiß es nicht!
Festzuhalten bleibt, daß es immer wieder Phänomene zu beobachten gab und gibt, die nicht "wissenschaftlich" zu erklären sind. Da werden Teufelskreise im Kleinen wie im Großen durchbrochen, wo es völlig unmöglich schien. Wenn F. J. Strauß noch vor 10 Jahren die Grünenbewegung ungestraft "Ratten und Schmeißfliegen" titulieren durfte, und heute keine Partei (zumindest in der BRD und Westberlin) bei den Wahlversprechen das Thema Umwelt ausläßt, ist das weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, denn wenn das Selbstverständliche selbstverständlich wäre ...
Gott oder ganz allgemein das Leben läßt sich offenbar nicht (nie?) in menschlichen Einheiten erfassen und steuern. Aber bei aller Kraft des Lebens - irgendwann kann es die Selbstmordversuche unserer Gattung nicht mehr verhindern.

Ulrich Karger




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