Startseite: Textenetz von Ulrich Karger


Textenetz | Kommentar (Essay): Lego, ergo sum


Lego, ergo sum - Ein Versuch über die Bedingungen des Lesens
Ein Essay von Ulrich Karger

Erstveröffentlichung: OPUS Nr. 07 für Mai/Juni 2008; Saarländisches Kulturmagazin



Sie lesen. Ich lese. Wir alle lesen - mehr oder weniger.
Mit genügend Abstand betrachtet, lässt sich für die Kultur des Lesens oder für das Lesen als Ingredienz menschlicher Kultur eine Dreiteilung ausmachen, wie sie ähnlich der Politikwissenschaftler und Philosoph Otto Kallscheuer in seiner "Wissenschaft über den lieben Gott" zwischen Gläubigen, Ungläubigen und Nichtgläubigen trifft. In seiner erhellenden Tour d'Horizon wird unter anderem als Tatsache benannt, dass die Ungläubigen nicht alle gleich ungläubig, sondern sich in der Regel, und zuweilen durchaus mit "Kierkegaardschem Ernst", von der sie jeweils umgebenden Religionskultur abwenden. Das hebe sie auch explizit von der dritten Gruppe ab, nämlich jener immer stärker anwachsenden "Masse der gleichgültig Nichtgläubigen", die in ihrer Ignoranz geradezu "universell" sei. Sie würde die Frage nach Gott nicht mehr als drängend verstehen, sich von ihr in ihrem Innersten gar nicht mehr berühren lassen. Soweit Professor Dr. Kallscheuer.
(Siehe hierzu auch meine Rezension in der Büchernachlese).

Keineswegs nur, weil in unseren Breiten die "Schriftreligionen" dominieren, welche sich auf die ihnen "heiligen" Bücher Thora, Bibel und Koran beziehen, scheint mir eine Analogie dieser dreiteiligen Zuordnung für das Lesen augenfällig. Danach entsprächen den "Gläubigen" alle Anhänger des auf Papier Gedruckten, die sich wiederum unter anderem in die "Konfessionen" bzw. die Unterabteilungen von bibliomanen Erstausgabensammlern, vorbestellende Hardcoverianer, sparsame Paperback- und Taschenbuchkonsumenten, reine Bibliothekennutzer, Flohmarktstöberer, zelotenhafte Raubdruckaufkäufer und auf regionale Anzeigen und Meldungen sich beschränkende Zeitungsleser* sortieren ließen.
Den "Ungläubigen" wiederum wären jene Anhänger zuzuordnen, die dem Papier völlig entsagen und sich Informationen und Unterhaltung ausschließlich über andere Medien einverleiben - zum Beispiel als virtuell im Internet verbreitete Texte oder auf sonst wie konservierten Medien, die entweder nur die Gehörgänge oder in bewegten Bildern zudem die Augen ansprechen.
Und "Nichtleser"? Gibt es so gut wie gar nicht - ebenso wenig wie die durchweg "Nichtgläubigen". Es hieße der seitens Kallscheuer den "Nichtgläubigen" attestierten "universellen Ignoranz" selber nachzugeben, würde das Glauben nur auf ein Fragen nach Gott verengt. Etwas zu glauben impliziert ja keineswegs nur eine religiös spirituelle Dimension, sondern meint eine gedankliche Bewegung, die auf vergangene und gegenwärtige Erfahrungen beruhend in ein wie auch immer weit entferntes Morgen zielt. Diese gedankliche, durchaus auch Emotionen gespeiste Bewegung mag zuweilen kaum noch messbar sein, doch völlig auszunehmen davon wüsste ich höchstens Menschen, die ohnmächtig, unter Narkose oder tot sind. Und das allein wäre auch die Einschränkung, die meines Erachtens zum "Nichtlesertum" führen kann. Denn etwas zu lesen meint ja keineswegs nur das Lesen von Buchstaben.
*(Mit der Bitte um Verständnis, wenn hier der besseren Lesbarkeit wegen nicht immer dezidiert zwischen "Leser" und "Leserin" bzw. "Leserinnen" unterschieden wird.)

Wir alle lesen - mehr oder weniger. Auch Analphabeten.
Das Wort "lesen" soll ja dem lateinischen "legere" entlehnt sein, wofür auch spricht, das es da wie dort im weiteren Sinne von etwas aufsammeln, zusammen- bzw. auflesen stehen kann.
Wir lesen in Gesichtern, wir lesen Spuren, die mögliche Beute- oder Raubtiere hinterlassen, Golfspieler lesen das "Grün", auf dem sie spielen. Blinde lesen mit ihren Händen - wir alle lesen aus, was von unzähligen, permanent sich verbreitenden Informationen um uns herum von Bedeutung ist oder eben nicht.
Alle Sinne sind am Lesen beteiligt, um das für den einzelnen Menschen Relevante vom weniger bis nicht Bedeutsamem zu unterscheiden. Ein Vorgang, der lebens-, ja, überlebensnotwendig ist. Doch was bedeutsam ist, leitet jeder für sich aus seinem Glauben ab, der hier im weitesten Sinne die Summe aus in der "Wirklichkeit" gemachten Erfahrungen und die Summe daraus gewonnener Schlussfolgerungen für künftiges Handeln, Denken und Fühlen meint. Zieht man beide Summen zusammen, speist sich daraus für den Einzelnen nicht nur ein umfassender Glaubensbegriff, sondern auch die jeweilige "Wahrheit" des Einzelnen. Die Bildung des eigenen Glaubens (wie auch der eigenen Wahrheit) geschieht keineswegs als ein klinisch reiner, bewusst gesteuerter Denkvorgang, sondern wird stets auch durch ein Mehr oder Weniger von nur schwer zu bändigenden Reflexen gesteuert. (Nicht zuletzt ein weites Feld für die Psychologie, die hier grob zwischen Bewusstem und Unbewusstem zu unterscheiden wüsste.)
Somit entwickelt auch jeder für sich eine ureigene Lesekultur und wird damit wiederum zum Bestandteil einer sich in größeren Zusammenhängen abzeichnenden Kultur des Lesens, die regional bis weltweit erörtert werden könnte. Und eine so verstandene Lesekultur steht in enger Beziehung zu einer ihr entsprechenden Glaubenskultur.
Das Wie und Was im Erlesen seiner selbst und der Umwelt wäre somit ein untrennbarer Teil jenes Konglomerats, das den Menschen zum unverwechselbaren Individuum macht. Lego, ergo sum - "ich lese, also bin ich" demnach womöglich sogar ein zutreffenderer Existenzbeweis als jenes cogito, ergo sum laut Descartes in seinen Principia philosophiae.

Wie eng die umfassende Bedeutung des Lesens wiederum mit dem speziellen Lesen von Buchstaben verwandt ist, zeigt sich allein schon daran, dass selbst dieser kleine Text hier von jedem Leser und jeder Leserin anders aufgenommen werden wird. Beileibe nicht nur wegen womöglich unterschiedlicher Ansichten zu Inhalt und Stil, sondern auch ganz "objektiv" im Sinne eines jeweils anderen Auflesens, was die Anzahl der tatsächlich gelesenen oder auch nur "überflogenen" Satzteile, Abschnitte und Seiten angeht. Oder um das Sprichwort zu bemühen - die einen "machen darum" viel oder eben "nicht viel Federlesens". Was sich einst auf die Befüllung der Kissen bezog, für die alles unangenehm Harte von den Federn zu entfernen war, lässt sich andererseits wiederum durchaus mit der Mühe des Autors vergleichen, der sein Thema möglichst präzise und dessen Lektüre für die Leser möglichst eingängig (ver-)fassen will. Er muss sein Geschriebenes immer wieder lesen, bis es als "Auslese" das enthält, was es enthalten soll - kein Wort zu viel und keines zu wenig. Und dann beginnt nichtsdestotrotz das bereits oben erwähnte Federlesen der Leser.

Die einen sind voll demokratischen Selbstbewusstseins, das sich allein auf das eigene Urteil verlässt und Bücher notfalls auch schon nach drei Seiten wieder zuklappt, und auf der anderen Seite jene, die nach einem Literaturkanon fragen, einem Leitfaden für das, was man angeblich gelesen haben muss. So meinte unter anderem Marcel Reich-Ranicki lange Zeit (und wohl noch immer), er wüsste genau, welche 100 Bücher aus der Belletristik (nicht nur) der heutigen Jugend anzugedeihen seien, um ihrer drohenden Barbarei Einhalt zu gebieten. Doch so unterhaltsam und in seiner Argumentation zuweilen auch durchaus bestechend derartige Äußerungen eines "Literaturpapstes" sind, haben sie - wie er auf Nachfrage selber zugeben würde - mit "Wissen" eben gar nichts zu tun, sondern mit (s)einem "Glauben" an das gedruckte Wort im Allgemeinen und an die Literatur des 19. Jahrhunderts im Besonderen. Und mit einer Überheblichkeit, die der jährlichen Produktion von zigtausend neuen Buchtiteln nicht Rechnung tragen kann und auch gar nicht erst Rechnung tragen will.

Was aber muss einer in seinem Leben gelesen haben, um zum Selbstmordattentäter zu werden oder andere zum Selbstmordattentat anzutreiben? Oder ins Positive gewendet: Was müsste zum Lesen angeboten werden, damit einer weder zum Selbstmordattentäter wird noch andere dazu verführt? Oder eine Nummer kleiner: Was müsste zum Lesen angeboten werden, damit Kinder und Jugendliche sich weder ins "Koma saufen" noch jene anderen Hemmschwellen im Wortsinn übertreten, die das Leben von Gleichaltrigen, Bus- und Rollstuhlfahrern gefährden? Und endlich: Was müsste derselben Zielgruppe zum Lesen angeboten werden, damit sie für sich das Lesen von Büchern als eine faszinierende Form der Aneignung fremder Gedankenwelten entdeckt?

Wie folgenreich hierfür nur gutgemeinter Deutschunterricht sein kann, habe ich bis zum Abitur des eigenen Kindes erleben müssen - das nach wie vor verbreitetete Feuerzangenbowlenpaukertum mag von außen betrachtet zwar durchaus komische Momente haben, ist in seiner Wirkung jedoch mehr als tragisch. Da werden noch immer die für Germanisten gewiss unverzichtbaren, (nicht nur) für Adoleszenten aber höchst quälenden "Leiden des jungen Werthers" von Goethe auf eine Weise nachvollzogen, dass man sich als Vater fragt, ob damit, anstelle der jugendlichen Leser zu Zeiten Goethes, nun das Lektüreverhalten der heutigen Jugend in den Selbstmord getrieben werden soll. Gleich hinterdrein: Gott sei Dank gibt es auch durchaus findige Lehrkräfte für das Fach Deutsch, die ihren Schülern und Schülerinnen sehr viel Freude und Lust an der eigenen Sprache und den darin verfassten Werken vermitteln - nicht zuletzt deshalb, weil sie selber zur begeisterten und sich begeistern lassenden Leserschaft zählen. Aber dem Ergebnis nach können diese nur einer verschwindenden Minderheit angehören. Den bei Kindern und Jugendlichen einzig messbaren Aufschwung für die Lektüre sogar sehr umfangreicher Bücher haben wir hierzulande derzeit vor allem Klaus Fritz zu verdanken. Als Übersetzer der Harry-Potter-Romane von Joanne K. Rowling wurde er zum Transmitter für eine neu entdeckte Lust am Bücherlesen - wie zweifelsohne auch die versetzt zum Erscheinen der Romane produzierten Verfilmungen. Doch der siebte und letzte Harry-Potter-Band ist veröffentlicht und die Werke der nächst erfolgreichen deutschen Autorin Cornelia Funke erreichen "nur" noch kaum ein Zehntel der Klientel von Joanne K. Rowling.

Unzählig die Sonntagsreden der Politiker, für die Beispiele aufgelesen wurden, wonach sich und andere gefährdende "Lebenseinstellungen" zur Bildungsferne führen.
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral - allein die Anzahl jener Eltern, die der Bewegungs- und Antriebslosigkeit ihrer Kinder und ihrer dadurch bedingten Fettleibigkeit nichts entgegensetzen können, ist mittlerweile erschreckend hoch. Und kaum weniger erschreckend die Anzahl jener Kinder, die mangelernährt und an Hunger leidend in die Schule geschickt werden - wenn überhaupt. Um jedoch die Bildung unserer Kinder und deren Lust am Bücherlesen zu befördern, reichen weder die Versorgung mit "Fressen" noch ein Moralisieren gegen überforderte Eltern und ihre Zöglinge aus. Es sind keine weiteren Sonntagsreden nötig, um zu erkennen, dass es uns alle weit teurer zu stehen kommt, auf geschlossene Heime und Gefängnisse zu setzen als zum Beispiel endlich optimale Rahmenbedingungen für die Schulen zu schaffen, nach denen mit mehr als bestenfalls nur ausreichendem Personal allen Kindern ein alle Sinne ansprechender Unterricht erteilt werden kann - inklusive der kostenfreien Möglichkeit einer gemeinschaftlich erlebten Essenskultur, die ihren Namen verdient. Das Know-how dafür längst vorhanden, muss die dafür notwendige Prioritätensetzung irrwitzigerweise immer noch als "utopisch" eingeschätzt werden. Es bleibt also abzuwarten, ob und wann die Option auf einen nachhaltigen Gewinn für alle Generationen, Schichten und Klassen als lohnend anerkannt wird. Und damit auch die Chance, dass aus dem "legere" ein "intellegere", also ein Verstehen wird, das gewiss nicht nur wieder mehr Bücherleser hervorbringt.
Bleibt abzuwarten, wer das hier nun wie gelesen hat ...

Ulrich Karger




ulrich-karger.de/textenetz/ © Ulrich Karger seit 2002