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Textenetz | E-Mail-Interview mit Stephan Krawczyk (inkl. Kritik zu Der Taubstumme)


Das Interview von Ulrich Karger mit Stephan Krawczyk wurde zwischen 1993 via E-Mail-Korrespondenz geführt.
Am Ende des Interviews ist eine Kritik zu Der Taubstumme nachzulesen, wofür Stephan Krawczyk das Libretto verfasst hat.

Erstveröffentlichung: Religion heute 16 / Dez. 1993

Homepage von Stephan Krawczyk:
  • www.stephan-krawczyk.de

  • In der Büchernachlese besprochene Titel:
  • Der Narr
  • Das irdische Kind
  • Schöne wunde Welt



  • Oft wundere ich mich, daß ich singe -

    (Ein Thema des Interviews ist das von Stephan Krawczyk verfasste Libretto zu der Oper "Der Taubstumme". Ulrich Kargers Kritik der Berliner Premiere ist am Ende des Interviews nachzulesen.)

    Ulrich Karger:
    Die Texte Ihrer Lieder und Gedichte zeichnen sich durch eine sensible Beobachtung des Allzumenschlichen aus. Wer heutzutage aber genau hinsieht und hinhört, ist nie weit vom Rande der Resignation entfernt. Was spornt Sie an, dennoch weiterhin akustische Zeichen gegen den ganz alltäglichen Wahnsinn zu setzen?

    Stephan Krawczyk:
    Gerade las, ich bei Luis Borges in einem Essay über Emanuel Swedenborg: "Das heißt, es gibt eine dreifache Erlösung: wir können uns retten durch Güte und Gerechtigkeit, durch abstrakte Intelligenz und schließlich durch die Ausübung von Kunst."
    Durch Resignation also nicht. "Resignation" heißt "Sichfügen in das unabänderlich Scheinende".
    Wir wissen, daß nichts unabänderlich ist - wohinein sich also fügen?
    Der Umbruch in der DDR ist beredtes, Beispiel dafür, was bleibt, wenn sich in den unabänderlich scheinenden Orientierungsrahmen im wahrsten Sinne des Wortes gefügt wird. Formlos dünkelt man in Ost und West auf den Gedankenfetzen der Erinnerung, die einem immer wieder bestätigen wollen, daß das jetzt schlechter ist - sei es, wie es ist - aber dennoch: Jener senile Nymbus, mit dem auch die sogenannten deutschen Intellektuellen in der Öffentlichkeit zu streiten pflegen, riecht nach gerahmtem Tod. Als hätte man uns jemals versprochen, daß wir in Ruhe und Frieden alt werden.
    Was ist mir passiert, daß ich ein Recht darauf hätte zu resignieren. In Bardera/Somalia sind allein im August 1992 achttausend Kinder unter fünf Jahren verhungert. Die Deutschen lümmeln sich auf einen Streit darüber, ob deutsche Soldaten dorthin geschickt werden dürften. Deutsche Waffen allerdings töten dort schon seit über einem Jahrzehnt.
    Wieviel ist ein Mensch wert? Hängt es davon ab, wo er aufwächst. Man ist geneigt zu vermuten, die Deutschen seien nie das Volk der Dichter und Denker gewesen. Sie gebärden sich so dumm. Oft wundere ich mich, daß ich singe - aber auch das ist kein Grund zu resignieren, denn es gilt, seine Stimme für das Leben zu erheben.


    Ulrich Karger:
    Sie sind 1955 in Weida bei Gera geboren. Ihr Lebenslauf in der DDR schließt hohe Auszeichnungen und zuletzt die Ausbürgerung zusammen mit Freya Klier ein. Was half Ihnen, das Utopia, den Anspruch Sozialismus von dem "real existierenden Sozialismus" zu unterscheiden, und ab wann steuerten Sie bewußt gegen diesen Widerspruch mit Ihren Texten an? Wieso stellten Sie nach Erkennen dieses Widerspruchs nicht, wie viele andere auch, von selbst einen Ausreiseantrag bzw. wehrten sich gegen Ihre Ausbürgerung?

    Stephan Krawczyk:
    Noch einmal: Je mehr Unweisheit und Unwürde mir in diesem Irrenhaus, das sich Menschheit nennt, wie Egon Friedell in "Kulturgeschichte der Neuzeit" schrieb, begegnen, desto mehr muß ich dagegen einsetzen. Weder zu DDR-Zeiten noch heute akzeptiere ich den betitelten Knilch oder die argumentationsbesessene Schnepfe, wenn sie nicht für eine Ordnung sprechen, in der du deine Anlagen leuchten lassen kannst.
    Ich mußte lernen, dort zu widerstehen, wo ich stand. Immer wenn mir das mißlang, schämte ich mich dafür. Meine Geschichte hat sehr viel mit der Entfaltung meines Schamgefühls zu tun. Täglich wird durch jeden von uns Unrecht in die Welt gesetzt, das durch nichts wieder gutzumachen ist. Wer Alltag säht, wird Allnacht ernten und braucht sehr viel Elektrizität, um Dasein zu ertragen. Wenn wir uns weiter gelderniedrigen lassen, zerstampfen wir alles. Es ist doch, um auf Ihre Frage zu schließen, das mindeste, sich gegen Entmündigung und Willkür zu wehren. Wie sinnlos muß es sein, wenn dies zu WAS BESONDEREM gestutzt wird.
    Mit "hohen Auszeichnungen" meinen Sie den Hauptpreis zum DDR-Chansonwettbewerb 1981 und den "Bettina-von-Arnim-Literaturpreis" 1992. Wenn wir uns durch Güte und Gerechtigkeit retten können, ist es doch nur ein Zeichen von Verkommenheit, wenn wir dieses überlassen.
    Ein Gebot unserer Zeitläufe "Du darfst nicht singen" unterlaufe ich mehr oder minder geschickt, aber ich unterlaufe es, weil ich meiner Bestimmung nicht entgehen will. Anmutig ist die Erklärung für den Zustand der Welt, die ich ebenfalls bei Borges lesen konnte, im Essay über die Kabbala:
    "Die Gnostiker sind viele Jahrhunderte älter als die Kabbalisten; sie haben ein ähnliches System, das einen unbegrenzten Gott postuliert. Aus diesem Gott namens "Pleroma" (die Fülle) geht ein zweiter Gott hervor (ich folge hier der ketzerischen Vision des Irenäus) und aus diesem Gott eine weitere Emanation, aus dieser wiederum eine neue, aus der neuen noch eine, und jede von ihnen ist ein Himmel. (Es gibt einen wahren Turm von Emanationen.) Insgesamt sind es dreihundertfünfundsechzig - die Astrologie spielt hier mit hinein.
    Wenn wir zur letzten Emanation kommen, jener, deren Anteil an Göttlichkeit nahe Null liegt, sehen wir uns jenem Gott gegenüber, der den Namen Jehovah trägt und diese Welt erschaffen hat.
    Warum erschafft er diese Welt, die so voll von Fehlern, von Grauen, von Sünden, so voll von psychischem Schmerz, von Schuldgefühlen, von Verbrechen? Weil die Göttlichkeit immer geringer wurde, und der kaum noch göttliche Jehovah diese mangelhaft Welt erschafft."

    Was uns jedoch umgibt, ist menschgemacht. Als Geste der Bescheidenheit möchte ich eines meiner Gedichte folgen lassen:
    ,Luft erfüllt von gelbem Pfeifen, Vögel landen nimmermehr.
    Wer wand dir den federnen Schmuck ins Haar
    die Boten geschwungenen Todes.
    Ein letztes Mal sehen, was über uns ist
    dann schneller die Stufen hinab.'
    Oliver Mertins, der größte lebende Dichter der deutschen Sprache, sagte vor einiger Zeit zu Bernd Markowsy, dem größten lebenden Fotografen Europas, man könnte in mir den Apokalyptiker erkennen. Ein etymologisch fundierter Satz. 'apocalypsis' (neutestamentalisch-griechisch, wörtlich: Enthüllung).
    Das könnte vielleicht ein Grund sein, weswegen ich singe.

    Ulrich Karger:
    Die christlichen Kirchen waren an den gesellschaftlichen Rand der DDR gedrängt. Ihnen anzugehören bzw. sich offen zu ihnen zu bekennen war meist mit Ausgrenzung verbunden. Wann und wodurch bot sich Ihnen Kirche als Nische Ihres gesellschaftlichen Widerspruchs an?

    Stephan Krawczyk:
    Das Bild - im allgemeinen - das der westdeutsche Medienmensch mit sich herum trägt, stimmt leider nicht immer hundertprozentig mit jenem überein, welchem der vor Ort geprägte gegenübersteht.
    Man könnte im speziellen Falle der Rolle der Kirche der DDR ebenso schreiben: Der Rolle, der Kirche, der DDR. Oft stand man uns männlich gegenüber, als wir um eine Nische für Stimme und Gehör, Blut und Fleisch baten.
    Freya Klier übernahm dankenswerterweise häufig die zermürbenden Verhandlungen. Manchmal jedoch war ich anwesend und kann, unter anderem, folgendes bezeugen: In einer Kleinstadt, deren Namen ich, um auch die Auswärtigen zu erreichen, nicht nennen werde, trug sich 1987 zu, daß ich einer Jungen Gemeinde mein Brecht-Programm vorspielen wollte. Es konnte mittlerweile schon vorkommen, daß der Veranstalter eine Ordnungsstrafe berappen mußte, eine Art Vergnügungssteuer. Aber auch diesem wollte sich die junge Gemeinde nicht beugen. Bevor ich zu spielen begann, bat mich ein Herr nach draußen, führte mich aus dem Mondlicht in eine Felsspalte, wo zwei weitere Herren warteten und grummelte auf mich ein.
    Wenn ich nicht - schon in Turnschuhen und schwarzem Dress - zu frieren begonnen hätte, wäre das ganze sehr lächerlich gewesen: Drei Graumelierte, die Oberen der kirchlichen Institution, drei Köpfe des fahlen Leibes Ordnung nahmen mich in ihre Mitte und sprachen mit den Zungen betretener Philister. Ich entsprach ihrem Wunsch nicht und spielte. Wahrscheinlich wäre mir sonst auch nicht wieder warm geworden.
    Um in der Metapher zu bleiben: Wir froren oft. Im Osten lud man mich seit der Wende in vielleicht zehn Kirchen ein, im Westen in etwa fünf, dabei war eine Synagoge.
    Lassen Sie mich aus meinem Lied "Weltbürgerwanst" den letzten Refrain zitieren:
    Die eitle Zeit straflosen Verfehlens
    wird uns entweichen wie ein Furz im Traum
    wir werden bitten mit zugeschnürten Kehlen
    es ist genug - noch etwas Sahneschaum.


    Ulrich Karger:
    Sie schrieben zu der jüngst in Dresden uraufgeführten Oper DER TAUBSTUMME das Libretto. Darin entwickelten Sie eine Paraphrase zu Mk 7,31ff.
    Ab wann und in welchem Kontext begannen Sie sich mit der Bibel auseinanderzusetzen? War Ihnen die Wahl dieser Perikope aus dem Markusevangelium vorgegeben? Flossen in die Bearbeitung dieses Textes auch Ihre persönlich gemachten Erfahrungen mit Christentum resp. Kirche ein?

    Stephan Krawczyk:
    Ich las die Bibel zweimal. Zuerst zur Information, weil ich um 1984 verschiedentlich zu Anlässen der eher offenen Arbeit eingeladen wurde. Während dieser Zeit begann ich zu schreiben.
    Die eine oder andere Satire hob die Stimmung in der Kirche. ("Wenn Jesus von seinem Blute sonntäglich trinken müßt' / erst dann wär' ihm zumute wie einem wahren Christ.")
    Die Diskrepanz zwischen Bibeltext und Kircheninstitution - ich werde ein kräftiges Wort wählen - widert mich an. Jeglicher Apparat ist von gestern und will uns in die Resignation zwingen.
    Jesus ist mir seit dieser Zeit ein Bruder, da ich nicht daran zweifele, daß er ein Mensch war. Die Knilche im Talar haben, sobald sie die Schrift verlassen, keine Worte mehr, das Leben zu predigen. Es sind Gehaltsempfänger. Wenigen ist es gegeben, Lehrer zu sein. Schön wäre es, wenn man ihnen in einer Kirche zuhören dürfte.
    Später, 1988, las ich die Bibel wieder, diesmal, weil mir dieses Buch als das einzige aus der Knastbibliothek erschien, von dem ich Geheimnisse zu erfahren hoffte.
    Die Grundidee zur Oper "Der Taubstumme" stammt von Rolf Baumgart, dem Komponisten.
    Zwar sollte das ganze unter Wasser spielen, eine Besonderheit der Moderne, doch bestand der eigentliche Anstoß für die Beschäftigung mit jenem Wunder in Markus' Verschwiegenheit - gern hätte ich gewußt, was die ersten Worte des Taubstummen nach seiner Heilung gewesen sind, oder hat er weiter geschwiegen? - wir haben keine Erinnerung daran.
    Von dem Libretto wurde ich überrascht. Sehr hoffe ich, daß es Ausdruck ist. Aber man stößt ja so viel auf Unverstand und fragt sich, wie soll man es ihnen nur erklären.


    Ulrich Karger:
    In dem Programmheft zur Oper schreibt deren Dramaturgin Isolde Matkey: "... der biblischen Metapher wohnt Dialektik inne. Die Menschen werden zwar von einem physischen Defekt geheilt, doch wird ihnen sogleich befohlen, das Wunder nicht weiterzuerzählen. (..) ... die Menschen werden neu reglementiert, codiert." um dann zu dem Schluß zu kommen:
    "So funktioniert die Bibel, so funktioniert die Gesellschaft, so funktioniert auch heute Manipulation."
    Eine aufregende, provozierende, und auf die heutige kirchliche Realität bezogen, durchaus diskutable Behauptung, wie ich meine. Aber inwieweit wurden für diese Behauptung auch Theologen in Anspruch genommen? Denn so wie Sie mit dem Text umgegangen sind, ihn also "gedeutet haben", ist mit ihm auch nach dem Selbstverständnis der meisten TheologInnen umzugehen, nämlich als ein Text, der sich erst in der Deutung zu erschließen vermag.
    Danach wollte aber Jesus den Geheilten nicht "codieren" bzw. manipulieren, sondern offenbarte hierin seine Menschlichkeit: Jesus hatte Angst! Er wußte, daß sich seine "Wundertaten" schnell herumsprechen würden und so zu jenem Ende führten, daß im Passionstext nachzulesen ist. Trotz dieses Wissens heilte er aber den Taubstummen ...
    Hätte die Kenntnis um diese Deutung von Mk. 7,31f. Ihnen eine andere Umsetzung abverlangt? Oder gar die Wahl einer anderen Vorlage? Oder wollten Sie bewußt auch diese Deutung konterkarikieren?

    Stephan Krawczyk:
    Das Libretto ist keine Schlußfolgerung.
    Was sollte man aus der Schrift schlußfolgern?
    Daß Jesus Angst hatte, ist auch keine, denn er war aus Fleisch und Blut? Wer hat keine Angst, wenn das Kreuz droht, trotz allem frohen Mutes durch den Vater.
    Jesus war fehlbar, wenn auch mit verzweifelter Gewißheit. Er war sterblich. und mußte die Schrift erfüllen. Ziehen wir daraus keine Schlußfolgerungen. Nur Gott ist unfehlbar - von den Gnostikern haben wir gehört. Mit dem Libretto ist Schrift dazugekommen. Der faustianische Kern Ihrer Frage läßt sich vorzüglich auf uns anwenden: Trotz unseres Wissens, es besser zu lassen, tun wir es doch.


    Ulrich Karger:
    Was meinen Sie mit "verzweifelter Gewißheit" einerseits und dem Aperçu "trotz unseres Wissen, es besser zu lassen, tun wir es doch"?
    Hätte Jesus also Ihrer Meinung nach besser geschwiegen, und sich und seine Glaubensgewissheit verraten sollen? Oder ist für Sie Jesus etwa synonym mit den von Ihnen kennengelernten kirchlichen Stellvertretern? Oder kann Ihrer Meinung nach ein Mensch, der von Gott redet, nur ein Scharlatan sein? Warum dann aber in Ihrem Libretto überhaupt der Rekurs auf das Neue Testament?

    Stephan Krawczyk:
    "Verzweifelte Gewißheit" ist etwas anderes als das antagonistische "Glaubensgewißheit". Wer denkt, daß Jesus so jung sterben wollte, vergißt die Schmerzen am Kreuz.
    Borges schreibt in seiner Erzählung "Der Wortschöpfer": "Soviel wissen wir, doch wissen wir nicht, was erfühlte beim Abstieg zum letzten Schatten. "
    Vielleicht hatte Jesus keine Wahl zwischen Sprechen und Schweigen. "Jegliches hat seine Zeit", steht in der Schrift. Mit den kirchlichen Stellvertretern hatte er nichts zu tun. "Stellvertreter" ist ja aber auch ein gemeines Wort. Hier offenbart allein der Klang die Größe des zu bezeichnenden. Sie sollten die Schrift vorlesen, ansonsten verantwortlich sein und keinesfalls Schlußfolgerungen ziehen.
    Man redet ja von Gott im allgemeinen, als wüßte man etwas darüber.
    Wenn etwas Schlimmes passiert, wird seine Existenz in Zweifel gezogen: Wenn es ihn gibt, warum läßt er das zu.'
    Jetzt könnte man anfangen, nachzudenken, aber schon kommen die Scharlatane, ersteigen die Kanzel und tun so, als wüßten sie.
    Sie sind ganz frei von weltlichen Übervorteilungen, wie Herr Nato, Hohes Vieh der Kirche Sachsen-Anhalts zu DDR-Zeiten und wahrscheinlich immer noch. Dieser bescheidene Mensch beschränkte sich auf zwei Automobile: Einen Mercedes und einen Volvo.
    Einfach war es freilich nicht, in seinen Gefilden eine Kulturnische zugewiesen zu bekommen.
    Der eine trage des anderen Last. (Bruder Stolpe, zum Beispiel, könnte die mir absurderweise angedrohte Nachzahlung von Kirchensteuer seit 1988, dem Jahr meines Westumzugs, übernehmen.)
    Die Marktschreier sind seit geraumer Zeit in die Kirchen eingezogen.
    Das Libretto soll keine Meinung sein, sondern Gedanken und höchstens Dichtung, die man den Lesern und Leserinnen von "Religion heute" vielleicht zugänglich macht.
    Zum Aperçu: Ganz entschieden in Aphorismuslaune kam mir der Satz: 'Früher' wußte man nicht, was man glaubte - heute glaubt man nicht, was man weiß.
    Nur ein Beispiel: Wir stellen immer noch FCKW her und wissen, daß es besser wäre, es zu lassen. Dächten wir jede unserer Verrichtungen bis zum Schluß, legten sich die Hände von selbst in den Schoß.

    Ulrich Karger:
    Könnten Sie sich in Zukunft auch Auftritte im kirchlichen Kontext vorstellen, d.h. nicht nur in kirchlichen Räumen, sondern auch in dem programmatischen Zusammenhang eines Kirchentages?

    Stephan Krawczyk:
    Vielleicht gelte ich als unverträglich und vielleicht bleiben deshalb die Einladungen zu Kirchentagen aus.
    "Ich lieb' dich doch, du kannst mich noch vom Totentanz erretten
    ich les' dir dann beim Abendmahl vom Unterkleid die Kletten. "
    Zwanzigtausend schicken ihr frohes Ave hinaus zu ihm, der für sie unter Schmerzen gestorben und - vor allem - wieder auferstanden ist. Große Aufmärsche kennt die Geschichte, um Glaubensgemeinschaft zu bekunden.
    Während meines Auftritts zum Kirchentag 89 - ich lud mich selbst ein - sang ich ein Kinderlied, in dem ein Kind den Butterberg erklettert, um durchs Ozonloch zu sehn. Ich empfahl für die Eintragung ins Gipfelbuch (man erfindet ganz absurde Geschichten, um der verwöhnten Sprachlosigkeit eins auszuwischen):
    Schreib doch einfach: Es war schön
    einmal durch so'n Loch zu sehn
    und 's ist schön, ein Mensch zu sein.'
    Aber mach kein' Fettfleck rein.
    Unter dem Jubel der Waldbühnenmassen zu Berlin kündigte ich außerdem eine großangelegte Bürgerinitiative zum Sofortverbot der FCKW-Herstellung an - der tiefere Grund. für meinen Gesang dort.
    Am Schluß jener "thematischen Veranstaltung" sah ich mich neben Norbert Blüm an der Bühnenrampe.
    Norbert packte plötzlich meine Hand, zog sie hoch und bewegte sie rhythmisch zum Chor des Plenums
    hin und her. Er führte meine Hand, er, dessen eigene auch für die Auslastung des Todes durch Maschinen emporschnellt. (Man protzt ja schon mit Kühlschränken.)
    Unsere Initiative übrigens, erhielt den Bundespostpreis, weil wir die, für eine Bürgerinitiative erstaunlichste Portosumme erziehlt hatten.
    Fast möchte man "Helau" rufen und eventuell einen deutschen Roman schreiben.
    Nicolas Sebastien Chamfort schrieb sinngemäß: Es bedarf vieler Toren, die zusammenlaufen müssen, damit ein Publikum entsteht.
    Aber wäre es nicht töricht von mir, wenn ich die Einladung, vor ihnen zu singen, ausschlagen würde?


    Ulrich Karger:
    Ich habe erfahren, daß Sie bereits auch in Schulen aufgetreten sind.
    Waren das Eintagsfliegen, oder würden Sie gern öfter von Schulen eingeladen?
    Was für ein "feedback" haben Sie von diesen Auftritten mitgenommen?

    Stephan Krawczyk:
    Der Austausch zwischen den Generationen war vielleicht noch nie so unterbrochen wie in der "Hochzivilisation" - soll heißen, in der Hochzeit der Dinge, wo jede Altersgruppe durch spezielles Angebot auf ihren "Geschmack" verwiesen wird.
    Man sieht Oma relativ selten bei, zum Beispiel, Performances der Havy-Metall-Kunst. Stattdessen treffen sich viele Ungleichzeitige, um gemeinsam eine Quizsendung zu genießen.
    Kann man daraus schlußfolgern, daß alles in Ordnung ist?
    Ich bin mir unsicher, ob diese Frage verstanden wird - man sagt, es gebe auch "gute Quizsendungen". Ist dies ein Zeichen für Verfall?
    "Kann man nicht auch mal abschalten", sagt Mutter und meint sich dabei. Dumpf definiert sich die Jugend aus den Katalogen. Eine größere Zahl von wackeren Lehrern müßte gegen die Dummheit der Wissenschaften, gegen den Verfall der Gesichter, gegen die Festlegung des Einzelnen durch den Moloch, den man "Ordnung" nennt, gegen die Schlachtung Gottes in immer kleinere Teile hörbar sein.
    Als erstes müßte natürlich ein Bilderturm angezettelt werden, da die Augen in allen Kämpfen als erste unterliegen.
    Nichts wird so sein. Davon auszugehen, liegt jenseits des Selbstbetruges. Auch wenn die Politik zu bremsen versuchte, das Kapital will wachsen. "Wer nicht wirbt, der stirbt" - ein Gebot aus der Bibel des Mammons. Man will das Fragen abgewöhnen und kommt voran. Man betoniert, aber noch nicht alles ist vom glatten Tod überzogen. So macht es Sinn in die Schulen zu gehen - um Zeichen des Lebens zu setzen.
    Das "feedback" während der Konzertmittage dort war von Konzentration geprägt. Nicht nur die Schüler - auch die LehrerInnen schienen der Hirarchie des Ortes enthoben. Ich werde auf jede neue Einladung reagieren.

     

    Der Taubstumme
    Oper für Solisten und Chor

    in Berlin-Brandenburgisches Sonntagsblatt 28/93 am 11.07.1993

    Ende Juni wurde im Theater am Halleschen Ufer eine Oper aufgeführt, die von den Zuschauern mit begeistertem Applaus gewürdigt wurde.
    Das Libretto zu DER TAUBSTUMME schrieb Stephan Krawczyk, sein Ausgangspunkt war die Perikope Mk 7,31 ff. "Heilung eines Taubstummen". Nicht das Wunder, sondern die Motivation zu diesem und den anderen Wundern Jesu wird darin radikal hinterfragt. So kommt es auch zu der Umkehrung aller bekannten Vorzeichen, und nicht Jesus ist für den Taubstummen, sondern der Taubstumme für Jesus da. Dieser Umstand und nicht der Zweifel an der Heilungskraft Jesu macht aus ihr einen "Trick", der die gesichtslose, brutalen Instinkten gehorchenden Masse bedient, bedienen soll ...
    Das Opferlamm ist zuletzt dann auch nicht Jesus, sondern eine Frau, die der Meute als Preis für den Fortbestand der Welt hingeworfen wird.
    Eine Oper ist kein Buch, und auch nicht der Text eines Librettos, sondern die Summe aus Text, Musik, Choreographie und Bühnenbild. Von daher ist die Qualität dieses Stückes nicht in den einzelnen Aussagen im Libretto zu suchen, sondern ob man nach der Inszenierung lau und gelangweilt oder angeregt und im guten Sinne verunsichert nach Hause geht.
    Die wenigen BesucherInnen der ersten Aufführung (kaum 60 Leute) standen noch lange Zeit im Foyer beieinander, und das lag nicht nur an dem Gläschen Sekt, das aus Anlaß der Premiere von der Theaterleitung spendiert wurde.
    Hier wurde ein "Ereignis" gefeiert, das keine/n kalt gelassen hatte.
    Das Bühnenbild: Über blauen Sand waren riesige Bibelseiten trapiert unter denen sich anfangs der Chor versteckt hielt. Später wurden diese Seiten zu einem überdimensionalen Buch "vereinigt", das zugeklappt den Hintergrund der gekreuzigten Magd ausmachte. Die Solisten und der Chor - Mitglieder des Opern(chor)studios der Sächsischen Staatsoper Dresden - vollbrachten Erstaunliches: A Capella, d.h. ohne instrumentale Begleitung, sangen und agierten sie volle 70 Minuten lang. Und wie! Sie erwiesen sich als ein Klangkörper, dem selbst in den wenigen stillen Momenten noch nachgelauscht wurde. Ein Ensemble, offenkundig ohne Allüren allein der Musik verpflichtet, das schlicht hervorragend ist. Und die Musik selbst ist zwar sicher nicht so eingängig wie Mozarts Don Giovanni, aber trotzdem auch für die Gehörgänge des ungeübteren Zuhörers zuträglich, d.h. neben wenigen Geräuschcollagen sind immer wieder Melodien und Rhythmen auszumachen, die einen mitwippen lassen. Last, but not least war auch die Choreographie ein Augenschmaus, so daß zu keiner Zeit Langeweile aufkommen konnte.
    Zusammengenommen also ein Fest der Sinne, das den Intellekt erst mal in seine Schranken verwies. Genau das aber haben wir festgefahrenen, starrsinnigen Westeuropäer mit unseren "verlorenen Werten" bitter nötig. Dieses Ereignis hätte sicherlich auch den Münchner Kirchentag mit seinem Motto "Nehmet einander an" befruchten können, so aber sollten Sie darauf achten, ob es nicht irgendwann auch in Ihrer Nähe zu einer Wiederaufführung kommt. Hinterher haben Sie dann ganz bestimmt einen mehr als abendfüllenden Gesprächsstoff.

    Ulrich Karger




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